"Deutschland ist einer der größten Klima-Schurken" (2024)

Ein letztes Mal, bevor die neue Regierung gewählt wird, gehen bundesweit Hunderttausende für den Klimaschutz auf die Straße, unter ihnen auch Klimaaktivistin Greta Thunberg. Die junge Schwedin macht deutlich, was auf dem Spiel steht, gibt der Fridays-for-Future-Generation aber auch Hoffnung.

Tausende von Menschen laufen durch die Straßen Berlins, durch das Regierungsviertel, am Brandenburger Tor vorbei und schließlich auf den Bundestag zu. Am Platz der Republik drängen sie sich Schulter an Schulter. Sie wollen sie sehen. Sie jubeln, schreien und klatschen, als die junge Frau auf der Bühne das Mikrofon in die Hand nimmt. Doch als sie zu sprechen beginnt, wird es plötzlich still. Die Plakate, die Schilder, die Fahnen werden heruntergelassen. Keiner rührt sich. Alle starren auf Greta Thunberg, die sagt: "Wir wollen Veränderung, wir fordern Veränderung, wir sind Veränderung." Dann bricht die Menge in Jubel und Applaus aus.

Nach ersten Schätzungen beteiligen sich an diesem Freitag deutschlandweit mehr als 600.000 Menschen am Klimastreik. Statt wie üblich in Stockholm zu streiken, läuft die Initiatorin der Bewegung in Berlin mit. Denn Deutschland habe eine ganz besondere Bedeutung: "Deutschland ist objektiv einer der größten Klima-Schurken", sagt Thunberg. Denn mit ihren rund 80 Millionen Einwohnern sei die Bundesrepublik historisch gesehen einer der größten Emittenten von CO2 weltweit. "Das ist schon eine Leistung", sagt sie und grinst. Im Publikum schaut man sich gegenseitig an und lächelt teilweise etwas nervös.

Natürlich hat Deutschland an diesem Freitag noch aus einem zweiten Grund eine besondere Bedeutung. Ein langer Sommer des Klimaaktivismus erreicht seinen Höhepunkt. In zwei Tagen wird Deutschland einen neuen Bundestag wählen, der im Gebäude hinter Thunberg die Klimaziele für die nächsten vier Jahre umsetzen wird. Doch die Klimaaktivistin hat nicht das Gefühl, dass diese Wahl wirklich zu einer Klimawahl geworden ist. "Keine einzige Partei ist auch nur annähernd in der Lage, einen Weg vorzuschlagen, der mit dem Pariser Abkommen vereinbar ist", sagt die 18-jährige Schwedin.

Die junge Generation kämpft

Mit dieser Einschätzung ist sie nicht allein. Zwei Stunden vor Greta steht Johan auf der gleichen Bühne. Johan ist erst 12 Jahre alt. "Ich fühle mich ohne Macht", sagt er. Erst bei der übernächsten Bundestagswahl darf er sein Kreuz setzen. Doch bis dahin - so die Mehrheit der Wissenschaftler - ist das Deutschland zustehende CO2-Budget längst aufgebraucht. "Werde ich dann überhaupt noch eine Wahl haben?", fragt der Siebtklässler laut in die Runde.

Ein großer Teil der Menschen, die sich heute versammelt haben, ist ebenfalls noch nicht wahlberechtigt. Überall sind Schülerinnen und Schüler zu sehen - den Unterricht lassen sie ausfallen. Leise will die Generation, die ihre Stimme nicht abgeben darf, aber nicht sein. Sie rufen Sätze wie: "Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!" Denn obwohl es für viele nicht das erste Mal ist, dass sie an einem Freitag die Schule schwänzen, um für das 1,5-Grad-Ziel zu demonstrieren, haben sie das Gefühl, immer noch nicht gehört zu werden. "Meiner Meinung nach ist das Klimathema im Wahlkampf nicht wichtig genug geworden", sagt der 15-jährige Jonas Rosen. "Wenn das der Fall wäre, wären wir heute nicht hier."

"Es fühlt sich wirklich kacke an. Weil man sich nicht gesehen fühlt, außer man ist hier auf einer Demo", sagt der 15-jährige Kolja aus Berlin. Und obwohl er nicht wählen darf - oder vielleicht gerade deshalb - hofft er, mit seiner Anwesenheit noch etwas bewirken zu können: "Kurz vor der Bundestagswahl kann man vielleicht noch viel reißen, wenn man wirklich Präsenz zeigt, weil viele noch bei ihrer Wahlentscheidung unentschlossen sind."

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Für eine 18-jährige Berlinerin, die in diesem Jahr zum ersten Mal an einer Bundestagswahl teilnehmen darf, ist klar: "Das wichtigste Thema, an das man bei der Wahl gedacht hat, war die Klimapolitik der Parteien." Sie kann Jonas und Johan verstehen. "Wir sind wütend, dass die Verantwortung für dieses Problem uns überlassen wurde. Es liegt jetzt wirklich an uns, denn die letzte Generation hat sich überhaupt nicht darum gekümmert."

Die 1,5-Grad-Wahl

Dass das Thema Klima im Wahlkampf überhaupt vorgekommen ist, lag vor allem an der jungen Fridays-for-Future-Generation. Sie sind es, die seit 148 Wochen weltweit auf die Straße gehen und für mehr Klimapolitik demonstrieren. Das war nicht ganz ohne Erfolg: "Wir haben jede demokratische Partei dazu gebracht, sich zum Klimaschutz zu committen und 1,5 Grad aufzuschreiben", sagt Klimaaktivistin und Fridays-for-Future-Vertreterin Luisa Neubauer, die nach Thunberg spricht.

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Und obwohl "es manchmal hart ist", seien Bewegungen wie "Fridays-for-Future" wichtiger denn je, um Politiker zu zwingen, ihren Worten Taten folgen zu lassen. In der Vergangenheit habe man gesehen, was passiere, wenn man nicht genug Druck ausübe: "Wir haben gelernt, dass die Bundesregierung so schlechte Klimapolitik macht, dass das Verfassungsgericht eingreifen musste", sagt die 25-jährige Neubauer. "Und es ist ihnen nicht mal mehr peinlich."

Deshalb sei es jetzt an der Zeit, "loszulegen und dafür zu sorgen, dass in der nächsten Legislaturperiode kein einziger Tag vergeht, in dem die Klimakrise aus den Augen verloren wird". Neubauer will in vier Jahren auf diesen Freitag zurückblicken und sagen können, "dass das der Anfang der klimagerechtesten Legislaturperiode überhaupt, jemals war".

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In wenigen Tagen beginnt diese Legislaturperiode, die nach wissenschaftlicher Einschätzung tatsächlich die letzte sein wird, in der aktiv gegen die Klimakrise vorgegangen werden kann. Nach den Überschwemmungen und Bränden, die in diesem Jahr in ganz Europa ihre Spuren hinterlassen haben, nach einem IPCC-Bericht, der den Politikern die Dringlichkeit der Klimakrise noch einmal deutlich vor Augen geführt hat, hoffen die Demonstrierenden auf eine Wende in der Klimapolitik.

Für Greta Thunberg geht es um mehr als nur um eine Wahl. "Wir können das nicht länger den Mächtigen überlassen", sagt sie. Wählen sei wichtig, aber wählen allein reiche nicht mehr aus. Denn die Protestbewegung auf der Straße zwinge jeden Politiker und jede Politikerin dazu, "echte Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen", sagt die 18-Jährige am Ende ihrer Rede. "Wir dürfen niemals aufgeben. Es gibt jetzt keinen Weg mehr zurück. Aber wir können das Blatt noch wenden."

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